Samstag, 5. August 2017

Verfahren eingestellt / Claudio Magris

Unter den Übersetzungen aus dem Italienischen, die in der letzten Zeit erschienen sind und die meine Aufmerksamkeit errungen haben, bildet dieser Titel sicherlich eine Ausnahme. Um es kurz und allzu salopp auszudrücken: „Schwere Kost“.
Dr. Claudio Magris studierte an den Universitäten Turin und Freiburg im Breisgau Germanistik. Er ist Essayist und Kolumnist für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera und andere europäische Zeitungen. Durch seine zahlreichen Studien zur mitteleuropäischen Kultur gilt er als deren größter Förderer in Italien. Claudio Magris lebt in Triest und spricht seinen fast als eigene Sprache bezeichneten Triestiner Dialekt. (Quelle: Wikipedia abgerufen am 5.8.2017)
Er ist also kein Romancier im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Wissenschaftler, was man seinem Buch sehr anmerkt. „Zunehmend warnt er vor der Gegenwart des Krieges und betätigt sich als paneuropäischer Friedensstifter im Sinne Kants.“ (Ebenfalls Wikipedia s.o.)
Als Warnung vor der Gegenwart des Krieges ist auch dieses Buch zu verstehen.
„Ich kämpfe nicht gegen das Vergessen, sondern gegen das Vergessen des Vergessens, gegen die schuldhafte Unbewusstheit, vergessen zu haben, vergessen haben zu wollen, nicht wissen zu wollen und nicht wissen zu können, dass es etwas Entsetzliches gibt, das man vergessen wollte – sollte?“
Das Buch erzählt die Geschichte eines grotesken Museums der Gewalt für eine Zukunft in Frieden und des Mannes, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, alle Erinnerungsstücke dafür mühselig zusammen zu tragen: vom alten Panzer, einem gebrauchten U-Boot, verrosteten Teilen kleiner Handwaffen aus allen Teilen der Welt, Videosequenzen aus alten Wochenschauen bis hin zu Abschriften aus den Todeszellen des ehemaligen Konzentrationslagers „La Risiera di San Sabba“ in Triest. Er selbst erlebt die Fertigstellung seines Museums nicht, da er in einer Nacht, als er inmitten seiner gesammelten Stücke in einem leeren Sarg eingeschlafen ist, bei einem Großfeuer verbrannt ist. Luisa, seine Assistentin,  macht es sich zur Aufgabe, aus den immer noch zahlreichen Resten der Sammlung das Museum gegen das Vergessen einzurichten. Vor allem die Notizbücher mit den Abschriften der Zellenwände sind für die Nachwelt interessant und gefürchtet. Die Erben möchten nicht, dass diese veröffentlicht werden. Wichtige Persönlichkeiten in Triest befürchten immer noch, dass herauskommen könnte, wer sich von ihnen oder ihren Vorfahren schuldig gemacht hat. Wie viele der Notizbücher den, vielleicht sogar vorsätzlich gelegten, Brand überstanden haben, ist nicht bekannt. Man hofft allgemein, dass die Beweise nicht reichen und daher ein wie auch immer geartetes Verfahren eingestellt wird. „Über diese Schande, diese ehemalige Triester Reisfabrik, in der die Nationalsozialisten einige tausend Menschen umgebracht hatten oder hingeschickt, um sie dort umbringen zu lassen – im Schweigen der Allgemeinheit, das auch nach dem Krieg noch anhielt –, begann man nun endlich zu reden, was manch einen in Verlegenheit brachte.“ (S.22)
Luisas eigene Lebensgeschichte ist der zweite Erzählstrang des Buches. Sie ist die Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, Nachfahrin von Diaspora und Sklavenhandel. Hier erfährt der Leser viel über Schuld, Gewalt und Krieg in anderen Teilen der Welt und wie alles mit allem zusammenhängt. Diese Kapitel haben mir sehr gefallen, da Magris hier wirklich eine romanhafte Erzählung gelingt.
Mir scheint, Magris hat mit den einzelnen Kapiteln selbst ein Museum der Gewalt errichtet. Die Geschichten sind so zahlreich und muten unsortiert an, als ob man in einem riesigen, verstaubten, unsortierten Museum von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück wandert. Man begreift die Intention, wird aber nicht wirklich ergriffen. Zumindest habe ich einiges über Triest und das einzige Vernichtungslager Italiens gelernt. Ich habe auch eingesehen, wie sehr nach dem Krieg, nach allen Kriegen, vertuscht und gelogen wird, um „ehrenwerte“ Herrschaften nicht zu belasten. Hier hat der Roman seinen Zweck erfüllt.
„Man hat den Müll ins Meer geschüttet, ins Flusstal, sie haben uns hier ausgeladen, zwischen dem Patòc und dem Meer, das Wasser kann hier nicht sehr tief sein, aber wir gehen unter, hinunter, Müll ins Meer zu kippen ist ein Verbrechen, ebenso Menschen hineinzuwerfen, aber der Richter erklärt: Das Verfahren wird eingestellt. (S. 399)
Große Mühe hatte ich auch mit den ellenlangen Sätzen und mühsamen Formulierungen, die ich zuerst der Übersetzerin anlasten wollte. Ich leiste allerdings Abbitte, nachdem ich ich mir das Original angeschaut habe, in dem Sätze wie dieser stehen:
„Lui però, prima, pare le avesse viste e ricopiate, quelle scritte, almeno alcune; anche quei nomi, si mormorava, nomi abietti e altolocati di collaborazionisti o comunque buoni amici dei boia, incisi sui muri delle luride latrine dalle vittime sulla soglia della morte e poi cancellati dalla calce – calce viva, bianca, innocente e bruciante sulla carne viva – e poi cancellati forse un’altra volta ancora dall’incendio nel suo capannone, da un fuoco distruttore che ripuliva ogni sozzura e restituiva una falsa innocenza alla più sordida e immonda infamia, a miserabili protetti per sempre dalla sparizione dei loro nomi dissolti nella calce e polverizzati nella cenere, illeggibili per i giudici umani, come quel magistrato che aveva dovuto concludere l’indagine sui crimini della Risiera quasi con un nulla di fatto; illeggibili forse pure per giudici più alti, anch’essi derubati di ogni materiale di prova e certo illeggibili per i figli di quegli assassini contumaci, ignari che quei loro nomi erano stati a suo tempo corrosi dalla calce o accartocciati dal fuoco; fieri anzi di portare quei nomi rispettabili e dei loro padri che li avevano portati anche quando le vittime – che essi avevano forse spinto o anche solo visto andare a una morte atroce e la cui sorte comunque non aveva turbato la loro indifferenza – li avevano scritti sui muri.“

„Er scheint also diese Inschriften zuvor gesehen und abgeschrieben zu haben, zumindest einige; und auch diese Namen, wie gemunkelt wurde, ordinäre und hochstehende Namen von Kollaborateuren oder zumindest guten Freunden der Henker, eingeritzt in die dreckigen Abortwände von den Opfern an der Schwelle des Todes, und dann ausgelöscht vom Kalk – vom frischen, weißen, unschuldigen und auf dem lebendigen Fleisch ätzenden weißen Kalk – und später vielleicht zum zweiten Mal ausgelöscht durch den Brand in seinem Schuppen, durch ein zerstörendes Feuer, das jede Schmutzigkeit beseitigte und selbst der erbärmlichsten und niederträchtigsten Gemeinheit eine falsche Unschuld zurückgab, jenen Schurken, die nun für immer geschützt waren durch das Verschwinden ihrer im Kalk aufgelösten und in der Asche pulverisierten Namen, unleserlich gemacht für die menschlichen Richter, so wie für jenen Staatsanwalt, der die Untersuchung über die Verbrechen in der Risiera gleichsam ergebnislos einstellen musste; unleserlich vielleicht auch für höhere Gerichte, denen ebenfalls jedes Beweismaterial fehlte, und ganz bestimmt unleserlich für die Kinder dieser abwesenden Mörder, die nicht wussten, dass ihre Namen seinerzeit vom Kalk zerfressen oder vom Feuer verbrannt worden waren; ja, die vielmehr stolz darauf waren, diese ehrenwerten Namen zu tragen, und genauso stolz auf ihre Väter, die diese Namen auch getragen hatten, als die Opfer – welche sie vielleicht in einen schrecklichen Tod getrieben oder ihm zumindest ausgeliefert hatten, kurz: deren Schicksal ihnen wohl ziemlich gleichgültig gewesen war – diese Namen an die Wände geschrieben hatten.“
Der vorliegenden Besprechung liegt die EBook-Ausgabe (ISBN 978-3-446-25604-0) zu Grunde, die mir der Verlag dankenswerter Weise im Rahmen meiner Reihe zu neueren Übersetzungen aus dem Italienischen zur Verfügung gestellt hat.

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