Donnerstag, 16. August 2018

Anna / Niccolò Ammaniti

Niccolo Ammaniti: Anna - Eisele 2018
Niccolo Ammaniti: Anna - Eisele 2018
Ich bin Ammaniti-Fan, das will ich mal vorausschicken. Seit ich "Non ho Paura"(Deutsch unter den Titeln "Die Herren des Hügels" und "Ich habe keine Angst") sowohl gelesen als auch als Film gesehen habe, konnte ich mich keinem der nachfolgenden Titel Ammanitis entziehen. 
Es ist immer eine ziemlich rohe Welt in einem einfachen Milieu am Rande der Städte - da wo Italien-Touristen eher selten hinschauen. Die Protagonisten sind ganz oft "Verlierertypen" , solche, die immer glauben, es wird noch einmal besser und sich dabei immer mehr in Schwierigkeiten bringen. Oft sind es Kinder und Jugendliche, die den eigentlichen "wahren" Blick aufs Geschehen haben, während die Erwachsenen nichts kapieren. Mit "Anna", das im Original schon im Jahr 2015 erschienen ist, lässt Ammaniti die Erwachsenen gleich ganz weg.
Schauplatz der Geschichte ist Sizilien. Ein Virus hat alle Erwachsenen dahingerafft. Die dreizehnjährige Anna lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Astor auf einem großen Grundstück auf dem Land, mit nichts als einem Notizbuch, in das ihre sterbende Mutter in letzter Verzweiflung und Anstrengung Handlungsanweisungen und Ratschläge für ihre Kinder aufgeschrieben hatte. 
"Am Tag darauf war Papa tot. Mama rief irgendwo an, und er wurde abgeholt. Anna hätte sich auch von ihm verabschieden, hätte zu ihm gehen können, doch ihre Mutter wusste damals noch nicht, dass Kinder nicht krank wurden. Kurze Zeit später war sie selbst an der Reihe.
Aus diesem Zeitraum blieben Anna nur wirre Bilder. Mama, die den ganzen Tag lang etwas schrieb, den Ellbogen auf dem Tisch, halb nackt. Mama, die das Heft mit Wichtigen Dingen füllte."
(S. 81)
Anna schafft es eine ganze Weile, ja sogar ein paar Jahre, ganz gut mit der Situation klarzukommen und auf ihren Bruder aufzupassen. Doch wie in jedem Märchen kommt der Tag, an dem sich die Handlung in eine gefährliche Richtung entwickelt. Astor bekommt Fieber und Anna lässt ihn viel zu lange alleine, um irgendwo Medikamente aufzutreiben. Als sie zurückkehrt, ist ihr Bruder verschwunden und das Haus geplündert.
"Anna Salemi beschloss, sich auf die Suche nach den blauen Kindern zu machen. Wenn sie die fand, würde sie auch ihren Bruder finden. Der Gedanke, er könnte tot sein, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie verließ Gut Maulbeerbaum am 30. Oktober 2020 und sollte nie wieder dorthin zurückkehren. Im Rucksack hatte sie eine Taschenlampe, ein Feuerzeug, ihr in ein grünes Sweatshirt gehülltes Heft mit den Wichtigen Dingen, ein Küchenmesser und den rechten Oberschenkelknochen ihrer Mutter."
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Auf der anschließenden Suche nach dem Bruder trifft sie viele andere Kinder, die alle zu einem verlassenen Hotel unterwegs sind, in der eine "Kleine Riesin" residieren soll, deren Kuss die Kinder vor dem Virus retten soll. Denn alle geschlechtsreifen Jugendlichen werden auch von der Krankheit dahingerafft. In einer Welt ohne Erwachsenen haben sich die Kinder Lösungen "ausgedacht", an die sie sich nun abergläubig klammern.
Einige glauben an den "Kuss der Riesin", andere an besondere Turnschuhe einer bestimmten Marke und wieder andere klammern sich an die Hoffnung, dass man es nur aufs italienische Festland schaffen muss, wo Wissenschaftler schon längst ein Gegenmittel gefunden haben sollen.
"Vielleicht war jenseits der Meerenge die Welt wieder so wie früher, bekamen die Großen Kinder und fuhren Auto, und die Läden waren offen, und man starb nicht, wenn man vierzehn war. Vielleicht hatten sie dort Sizilien vergessen, zusammen mit allen seinen Waisen. Von den vielen abwegigen Legenden und Mutmaßungen, die sie gehört hatte, schien ihr diese die einzig plausible, die einzig glaubhafte, die einzige, für die es sich lohnte, sich in Bewegung zu setzen und nachzuschauen."
(S. 189)
In der geradezu orgiastischen Ansammlung von Kindern beim alten Hotel findet Anna nicht nur ihren Bruder wieder sondern trifft auch auf den etwas älteren Pietro. Außerdem schließt sich den dreien ein Hund an.
Zusammen mit Pietro und dem Hund schafft sie es, ihren Bruder aus den Klauen der völlig abgedrehten Kinderschar zu befreien. Die Szenerie lässt unwillkürlich an ähnliche Szenen aus "Lord of the Flies" von William Golding denken.
Die Kinder machen sich zusammen mit dem Hund auf den langen Weg von Castellamare über Palermo bis zur Meerenge von Messina, um von dort irgendwie ans Festland zu gelangen. Zwischendurch landen sie im idyllischen Ferienort Cefalú, wo sie sich in einer verlassenen Wohnung direkt am Strand niederlassen. Hier vergessen sie fast ihre Ängste und leben wie eine kleine glückliche Familie. 
Cefalú ©e_mager
"Die Plünderungen, Verwüstungen und Brände hatten auf ganz Sizilien gewütet, nicht jedoch in Cefalù. In den Häusern hatte Anna nur wenige Skelette gefunden. Es schien, als hätten die Bewohner den Ort verlassen, bevor sie der Epidemie zum Opfer fielen."
(S. 322)
Pietro fühlt, dass ihm mit 16 Jahren nicht mehr viel Zeit bleibt, bis ihn der Virus erwischt. Er will weiter zum Festland, notfalls ohne Anna. Und hier wendet sich die Geschichte wieder einmal. 
"»Am Ende kommt’s nicht darauf an, wie lang du lebst, sondern wie du lebst. Wenn du ein gutes Leben führst, wenn du alles auskostest, dann ist ein kurzes Leben so viel wert wie ein langes. Glaubst du nicht auch?«"
(S. 362)

Meine Meinung:

eine wirklich berührende Geschichte. An jeder Stelle wusste ich, dass Kinder so ticken. dass es eine wahre Geschichte ist, auch wenn sie in der fiktiven Zukunft spielt. Ich weiß, dass es kein "schönes Buch" ist, wie es sich viele der Leser und Leserinnen meiner Bücherei oft wünschen. Sie werden es mir zurückgeben und sagen: "Also das hat mich angewidert, das habe ich ganz schnell wieder zugeklappt." Dann denke ich immer "Schade! Ihnen entgeht so viel!"
Luis Ruby, der Übersetzer, hat an keiner Stelle spüren lassen, dass es sich überhaupt um eine Übersetzung handelt. Ein großes Lob auch hier! Auch im Deutschen liest man einen echten Ammaniti.

Zum Autor

NICCOLÒ AMMANITI, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und inter­national renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Sein Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, der Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. (Verlagstext)

Dienstag, 20. Februar 2018

Reisen mit Freunden / von Lothar Conrad

Am Ende seines Textes schreibt der Autor: " ... Haben Ihnen meine Geschichten gefallen, so erzählen Sie davon allen, die Sie kennen. haben sie Ihnen nicht gefallen, so schweigen Sie. Danke."

Einerseits: ....

Andererseits: hier hat ein Mensch mit einem abwechslungsreichen Leben beschlossen, die Fernreisen, die er aufgrund seiner Arbeit als Handelsvertreter unternehmen durfte, aufzuschreiben. Er hat viel erlebt und von der Welt gesehen, die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt, die ihm zum Teil zu Freunden wurden.
Die Familie hat ihn ermuntert, nachdem er sicher oft und oft von seinen Erlebnissen erzählt hat, doch alles aufzuschreiben.
"Das darf doch nicht in Vergessenheit geraten und außerdem kannst Du doch so spannend erzählen."

Und so setzt er sich hin und fängt an zu erzählen. Es werden sechs Reisen, von denen die erste schon vor 50 Jahren gewesen sein muss - leider schreibt Conrad kein Datum dazu - und ihn nach Amerika führt. Es wird ein abenteuerliches Roadmovie mit Freunden in einer Zeit ohne Navi und Smartphone.
Die weiteren Reisen führen den Autor erneut nach Amerika (1985), nach China (2000), nach Island (2005), wieder nach Amerika (2007) und schließlich ins Baltikum (2010).
Der Text wird mit allerlei kleinen, farbigen Fotos illustriert. Touristenfotos.

Kann man den Text gut lesen? Ja, Conrad schreibt locker und anschaulich von dem, was er erlebt hat.

Für wen ist dieser Text gedacht? Es ist ein Buch für die Familie Conrad. Ein Schatz, den man weitergeben kann an Verwandtschaft und Enkel. Wie ein besonderes Fotoalbum. "Lies mal, was Opa so alles erlebt hat. Ein toller Hecht." Vielleicht ist es auch für die Leute spannend, die selbst zu diesen Stätten gereist sind und ihre Erfahrungen mit denen von Lothar Conrad vergleichen möchten.

Handelt es sich hier um Literatur? Nein! Nicht alles, was zwischen zwei Buchdeckel gebannt ist, ist Literatur, die einer möglichst breiten Masse bekannt gemacht werden muss.

Ich habe ein ähnliches Buch über unsere Zeit in Rom geschrieben. Ein Tagebuch, ganz nett, die Familie liest es gern, den Kindern hilft es, sich an diese Zeit zu erinnern. Sie zeigen es gerne ihren Freunden. Ist es Literatur ? - Nein! Ab und zu wird es gekauft, wenn jemand mit Kindern nach Italien zieht.


 Jetzt habe ich doch nicht geschwiegen. Falls Sie neugierig auf biographische Reisebeschreibungen von mehr als einem halben Jahrhundert sind: hier berichtet ein Zeitzeuge authentisch, wie es gewesen ist - zum Beispiel in Memphis, Tennessee, in den sechziger Jahren.

Reisen mit Freunden / Lothar Conrad. - swb media services: Stuttgart, 2017. - 3. Aufl., 161 S., farb. Ill. - ISBN 9783945769119, Broschur : 14,80 €

Freitag, 18. August 2017

Giacinta / Luigi Capuana

©e_mager 
Die kleine Giacinta wird von Geburt an von ihrer Mutter abgelehnt, die nur selbstsüchtig auf Geld und eine gute gesellschaftliche Stellung aus ist. Sie wird bis zum Alter von 5 Jahren bei einer Amme aufs Land gegeben, wo sie ziemlich verwahrlost und wie ein kleines wildes Tier aufwächst. Als es der Mutter endlich in den Kram passt, wird Giacinta  wieder nach Hause geholt, wo sie mehr oder weniger sich selbst überlassen ist. Anstatt wie vorher auf dem Land recht frei herumzutollen, ist sie nun auf ein Zimmer mit Aussicht auf den eng ummauerten Garten angewiesen. Sie hat keinerlei Kontakt zu Gleichaltrigen. Einzig der Vater ist ihr liebevoll zugetan, aber auch dieser steht unter dem Pantoffel von Giacintas Mutter. Als diese ziemlich unüberlegt einen jungen Mann als Gärtner engagiert, findet Giacinta endlich einen lustigen Kamerad, der Zeit für sie hat. Beppe freut sich, wenn Giacinta zu ihm in den Garten kommt und er hat immer allerlei Späße für sie in petto. Doch ohne dass Giacinta es bemerkt, wandeln sich diese Späße immer mehr zu sexuellen Handlungen bis hin zur handfesten, von Giacinta heftigst abgelehnten Vergewaltigung. Als eine Magd die beiden erwischt, wird Beppe entlassen. Die entsetzte Mutter weiß sich keinen anderen Rat als Giacinta auf ein Internat zu schicken bis sie erwachsen ist.
Wieder im elterlichen Haus, versucht die Mutter mit groß angelegten Festen und Einladungen ihre Tochter mit einer einigermaßen guten Partie zu verheiraten. Der Makel der Vergewaltigung in jungem Alter ist stadtbekannt und deshalb kann man nicht wählerisch sein. Die wunderschöne Giacinta spielt gekonnt auf dem gesellschaftlichen Parkett und schart eine ganze Gruppe junger Männer um sich herum. Innerlich ist sie jedoch teilnahmslos und überhaupt nicht auf eine Ehe aus. Einzig Andrea, ein lebenslustiger und unterhaltsamer junger Mann aus Neapel, kann ihr Herz gewinnen. Da Giacinta aber zutiefst misstrauisch ist und eine abgrundtiefe Angst vor Enttäuschung hat, lässt sie eine Liebesbeziehung nur außerhalb einer Ehe zu.
„Der Mann meines Herzens kann vielleicht mein Geliebter werden, aber mein Ehemann, nein, niemals.“ (S.23)
Andrea, der Giacinta aufrichtig liebt, ist einverstanden, dass sie zum Schein und wegen des guten Namens, den etwas schwachsinnigen Grafen Grippa di San Celso heiratet. Ein skandalöses Leben in einer ungewöhnlichen Ménage-à-trois beginnt und nimmt einen verheerenden Verlauf.
Luigi Capuana schildert dieses Psychogramm einer jungen, weiblichen Seele so schonungslos und präzise, dass der Roman bei seinem ersten Erscheinen 1879 in Italien einen Skandal auslöst und nach sechs Monaten ausverkauft ist. Erst 1886 gibt es eine entschärfte Version, die genau wie weitere Ausgaben nie den Erfolg der Erstausgabe wiederholen können. Erst 1980 erscheint bei Mondadori die Neuauflage nach dem Urtext des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Originals, auf das sich auch die vorliegende Übersetzung von Stefanie Römer ins Deutsche stützt.
Diese liest sich hervorragend flüssig und modern, obwohl sie im Sprachduktus auf die Zeit, in der das Buch spielt, Rücksicht nimmt. Ich habe das sehr schön editierte Buch in einem Rutsch durchgelesen, allerdings häufig kopfschüttelnd. Nicht wegen der „skandalösen“ Begebenheiten, die uns heute keine Empörung mehr entlocken, sondern wegen der wirklich abstrusen Gedankenwelt Giacintas. Capuanas Buch gilt als erster Vertreter der in den 1870er Jahren in Italien neu entstanden Gattung des Verismo, der von Zola und Tolstoi beeinflusst war. Dieser zeichnet sich durch übersteigerten Realismus in der Beschreibung von vor allem sozialkritischen Begebenheiten aus. Bei Capuana sind es die neuen psychologischen und medizinischen Erkenntnisse Mitte des 19. Jahrhunderts, die er mit der Lebensgeschichte der Giacinta illustrieren möchte.
Für Èmile Zola
Ich bin mir gewiss, ein Buch geschrieben zu haben, das weder scheinheilig noch unmoralisch ist. Wäre ich doch ebenso sicher, geschaffen zu haben, was in meiner Absicht stand – ein wahres Kunstwerk! (Widmung)
Ein interessantes Buch, das es verdient hat, aus der Vergessenheit geholt worden zu sein, auch wenn es nicht so stark ist, wie die Klassiker Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest, mit denen es auf dem Schutzumschlag verglichen wird.
Mir gefällt es sehr, wenn ich „historische“ Stoffe von zeitgenössischen Autoren lesen kann, so wie  z.B. auch die Neuausgabe von Gabriele Tergits  „Käsebier erobert Berlin“. So erlebe ich eine kleine, sehr authentische Zeitreise. Ich freue mich, dass die Verlage diese Kostbarkeiten wieder ans Licht holen und nicht immer nur neue Autoren herausgeben.
Über den Autor:
Luigi Capuana (1839–1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen. «Giacinta» wurde bei Veröffentlichung zu einem Riesenerfolg. 1886 erschien nach empörtem Echo der Kritik eine zweite, «entschärfte» Version. (Verlagstext)
Dieser Artikel ist der sechste aus meiner Reihe zu aktuellen Übersetzungen aus dem Italienischen: Gastland Italien

Benvenuti Ciao Willkommen ...

... zum Blog der Website "Brücke von Deutschland nach Italien".