Ich bin Ammaniti-Fan, das will ich mal vorausschicken. Seit ich "Non ho Paura"(Deutsch unter den Titeln "Die Herren des Hügels" und "Ich habe keine Angst") sowohl gelesen als auch als Film gesehen habe, konnte ich mich keinem der nachfolgenden Titel Ammanitis entziehen.
Es ist immer eine ziemlich rohe Welt in einem einfachen Milieu am Rande der Städte - da wo Italien-Touristen eher selten hinschauen. Die Protagonisten sind ganz oft "Verlierertypen" , solche, die immer glauben, es wird noch einmal besser und sich dabei immer mehr in Schwierigkeiten bringen. Oft sind es Kinder und Jugendliche, die den eigentlichen "wahren" Blick aufs Geschehen haben, während die Erwachsenen nichts kapieren. Mit "Anna", das im Original schon im Jahr 2015 erschienen ist, lässt Ammaniti die Erwachsenen gleich ganz weg.
Schauplatz der Geschichte ist Sizilien. Ein Virus hat alle Erwachsenen dahingerafft. Die dreizehnjährige Anna lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Astor auf einem großen Grundstück auf dem Land, mit nichts als einem Notizbuch, in das ihre sterbende Mutter in letzter Verzweiflung und Anstrengung Handlungsanweisungen und Ratschläge für ihre Kinder aufgeschrieben hatte.
"Am Tag darauf war Papa tot. Mama rief irgendwo an, und er wurde abgeholt. Anna hätte sich auch von ihm verabschieden, hätte zu ihm gehen können, doch ihre Mutter wusste damals noch nicht, dass Kinder nicht krank wurden. Kurze Zeit später war sie selbst an der Reihe.(S. 81)
Aus diesem Zeitraum blieben Anna nur wirre Bilder. Mama, die den ganzen Tag lang etwas schrieb, den Ellbogen auf dem Tisch, halb nackt. Mama, die das Heft mit Wichtigen Dingen füllte."
Anna schafft es eine ganze Weile, ja sogar ein paar Jahre, ganz gut mit der Situation klarzukommen und auf ihren Bruder aufzupassen. Doch wie in jedem Märchen kommt der Tag, an dem sich die Handlung in eine gefährliche Richtung entwickelt. Astor bekommt Fieber und Anna lässt ihn viel zu lange alleine, um irgendwo Medikamente aufzutreiben. Als sie zurückkehrt, ist ihr Bruder verschwunden und das Haus geplündert.
"Anna Salemi beschloss, sich auf die Suche nach den blauen Kindern zu machen. Wenn sie die fand, würde sie auch ihren Bruder finden. Der Gedanke, er könnte tot sein, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie verließ Gut Maulbeerbaum am 30. Oktober 2020 und sollte nie wieder dorthin zurückkehren. Im Rucksack hatte sie eine Taschenlampe, ein Feuerzeug, ihr in ein grünes Sweatshirt gehülltes Heft mit den Wichtigen Dingen, ein Küchenmesser und den rechten Oberschenkelknochen ihrer Mutter."1
Auf der anschließenden Suche nach dem Bruder trifft sie viele andere Kinder, die alle zu einem verlassenen Hotel unterwegs sind, in der eine "Kleine Riesin" residieren soll, deren Kuss die Kinder vor dem Virus retten soll. Denn alle geschlechtsreifen Jugendlichen werden auch von der Krankheit dahingerafft. In einer Welt ohne Erwachsenen haben sich die Kinder Lösungen "ausgedacht", an die sie sich nun abergläubig klammern.
Einige glauben an den "Kuss der Riesin", andere an besondere Turnschuhe einer bestimmten Marke und wieder andere klammern sich an die Hoffnung, dass man es nur aufs italienische Festland schaffen muss, wo Wissenschaftler schon längst ein Gegenmittel gefunden haben sollen.
"Vielleicht war jenseits der Meerenge die Welt wieder so wie früher, bekamen die Großen Kinder und fuhren Auto, und die Läden waren offen, und man starb nicht, wenn man vierzehn war. Vielleicht hatten sie dort Sizilien vergessen, zusammen mit allen seinen Waisen. Von den vielen abwegigen Legenden und Mutmaßungen, die sie gehört hatte, schien ihr diese die einzig plausible, die einzig glaubhafte, die einzige, für die es sich lohnte, sich in Bewegung zu setzen und nachzuschauen."(S. 189)
In der geradezu orgiastischen Ansammlung von Kindern beim alten Hotel findet Anna nicht nur ihren Bruder wieder sondern trifft auch auf den etwas älteren Pietro. Außerdem schließt sich den dreien ein Hund an.
Zusammen mit Pietro und dem Hund schafft sie es, ihren Bruder aus den Klauen der völlig abgedrehten Kinderschar zu befreien. Die Szenerie lässt unwillkürlich an ähnliche Szenen aus "Lord of the Flies" von William Golding denken.
Die Kinder machen sich zusammen mit dem Hund auf den langen Weg von Castellamare über Palermo bis zur Meerenge von Messina, um von dort irgendwie ans Festland zu gelangen. Zwischendurch landen sie im idyllischen Ferienort Cefalú, wo sie sich in einer verlassenen Wohnung direkt am Strand niederlassen. Hier vergessen sie fast ihre Ängste und leben wie eine kleine glückliche Familie.
"Die Plünderungen, Verwüstungen und Brände hatten auf ganz Sizilien gewütet, nicht jedoch in Cefalù. In den Häusern hatte Anna nur wenige Skelette gefunden. Es schien, als hätten die Bewohner den Ort verlassen, bevor sie der Epidemie zum Opfer fielen."(S. 322)
Pietro fühlt, dass ihm mit 16 Jahren nicht mehr viel Zeit bleibt, bis ihn der Virus erwischt. Er will weiter zum Festland, notfalls ohne Anna. Und hier wendet sich die Geschichte wieder einmal.
"»Am Ende kommt’s nicht darauf an, wie lang du lebst, sondern wie du lebst. Wenn du ein gutes Leben führst, wenn du alles auskostest, dann ist ein kurzes Leben so viel wert wie ein langes. Glaubst du nicht auch?«"(S. 362)
Meine Meinung:
eine wirklich berührende Geschichte. An jeder Stelle wusste ich, dass Kinder so ticken. dass es eine wahre Geschichte ist, auch wenn sie in der fiktiven Zukunft spielt. Ich weiß, dass es kein "schönes Buch" ist, wie es sich viele der Leser und Leserinnen meiner Bücherei oft wünschen. Sie werden es mir zurückgeben und sagen: "Also das hat mich angewidert, das habe ich ganz schnell wieder zugeklappt." Dann denke ich immer "Schade! Ihnen entgeht so viel!"
Luis Ruby, der Übersetzer, hat an keiner Stelle spüren lassen, dass es sich überhaupt um eine Übersetzung handelt. Ein großes Lob auch hier! Auch im Deutschen liest man einen echten Ammaniti.
Zum Autor
NICCOLÒ AMMANITI, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Sein Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, der Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. (Verlagstext)