Freitag, 18. August 2017

Giacinta / Luigi Capuana

©e_mager 
Die kleine Giacinta wird von Geburt an von ihrer Mutter abgelehnt, die nur selbstsüchtig auf Geld und eine gute gesellschaftliche Stellung aus ist. Sie wird bis zum Alter von 5 Jahren bei einer Amme aufs Land gegeben, wo sie ziemlich verwahrlost und wie ein kleines wildes Tier aufwächst. Als es der Mutter endlich in den Kram passt, wird Giacinta  wieder nach Hause geholt, wo sie mehr oder weniger sich selbst überlassen ist. Anstatt wie vorher auf dem Land recht frei herumzutollen, ist sie nun auf ein Zimmer mit Aussicht auf den eng ummauerten Garten angewiesen. Sie hat keinerlei Kontakt zu Gleichaltrigen. Einzig der Vater ist ihr liebevoll zugetan, aber auch dieser steht unter dem Pantoffel von Giacintas Mutter. Als diese ziemlich unüberlegt einen jungen Mann als Gärtner engagiert, findet Giacinta endlich einen lustigen Kamerad, der Zeit für sie hat. Beppe freut sich, wenn Giacinta zu ihm in den Garten kommt und er hat immer allerlei Späße für sie in petto. Doch ohne dass Giacinta es bemerkt, wandeln sich diese Späße immer mehr zu sexuellen Handlungen bis hin zur handfesten, von Giacinta heftigst abgelehnten Vergewaltigung. Als eine Magd die beiden erwischt, wird Beppe entlassen. Die entsetzte Mutter weiß sich keinen anderen Rat als Giacinta auf ein Internat zu schicken bis sie erwachsen ist.
Wieder im elterlichen Haus, versucht die Mutter mit groß angelegten Festen und Einladungen ihre Tochter mit einer einigermaßen guten Partie zu verheiraten. Der Makel der Vergewaltigung in jungem Alter ist stadtbekannt und deshalb kann man nicht wählerisch sein. Die wunderschöne Giacinta spielt gekonnt auf dem gesellschaftlichen Parkett und schart eine ganze Gruppe junger Männer um sich herum. Innerlich ist sie jedoch teilnahmslos und überhaupt nicht auf eine Ehe aus. Einzig Andrea, ein lebenslustiger und unterhaltsamer junger Mann aus Neapel, kann ihr Herz gewinnen. Da Giacinta aber zutiefst misstrauisch ist und eine abgrundtiefe Angst vor Enttäuschung hat, lässt sie eine Liebesbeziehung nur außerhalb einer Ehe zu.
„Der Mann meines Herzens kann vielleicht mein Geliebter werden, aber mein Ehemann, nein, niemals.“ (S.23)
Andrea, der Giacinta aufrichtig liebt, ist einverstanden, dass sie zum Schein und wegen des guten Namens, den etwas schwachsinnigen Grafen Grippa di San Celso heiratet. Ein skandalöses Leben in einer ungewöhnlichen Ménage-à-trois beginnt und nimmt einen verheerenden Verlauf.
Luigi Capuana schildert dieses Psychogramm einer jungen, weiblichen Seele so schonungslos und präzise, dass der Roman bei seinem ersten Erscheinen 1879 in Italien einen Skandal auslöst und nach sechs Monaten ausverkauft ist. Erst 1886 gibt es eine entschärfte Version, die genau wie weitere Ausgaben nie den Erfolg der Erstausgabe wiederholen können. Erst 1980 erscheint bei Mondadori die Neuauflage nach dem Urtext des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Originals, auf das sich auch die vorliegende Übersetzung von Stefanie Römer ins Deutsche stützt.
Diese liest sich hervorragend flüssig und modern, obwohl sie im Sprachduktus auf die Zeit, in der das Buch spielt, Rücksicht nimmt. Ich habe das sehr schön editierte Buch in einem Rutsch durchgelesen, allerdings häufig kopfschüttelnd. Nicht wegen der „skandalösen“ Begebenheiten, die uns heute keine Empörung mehr entlocken, sondern wegen der wirklich abstrusen Gedankenwelt Giacintas. Capuanas Buch gilt als erster Vertreter der in den 1870er Jahren in Italien neu entstanden Gattung des Verismo, der von Zola und Tolstoi beeinflusst war. Dieser zeichnet sich durch übersteigerten Realismus in der Beschreibung von vor allem sozialkritischen Begebenheiten aus. Bei Capuana sind es die neuen psychologischen und medizinischen Erkenntnisse Mitte des 19. Jahrhunderts, die er mit der Lebensgeschichte der Giacinta illustrieren möchte.
Für Èmile Zola
Ich bin mir gewiss, ein Buch geschrieben zu haben, das weder scheinheilig noch unmoralisch ist. Wäre ich doch ebenso sicher, geschaffen zu haben, was in meiner Absicht stand – ein wahres Kunstwerk! (Widmung)
Ein interessantes Buch, das es verdient hat, aus der Vergessenheit geholt worden zu sein, auch wenn es nicht so stark ist, wie die Klassiker Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest, mit denen es auf dem Schutzumschlag verglichen wird.
Mir gefällt es sehr, wenn ich „historische“ Stoffe von zeitgenössischen Autoren lesen kann, so wie  z.B. auch die Neuausgabe von Gabriele Tergits  „Käsebier erobert Berlin“. So erlebe ich eine kleine, sehr authentische Zeitreise. Ich freue mich, dass die Verlage diese Kostbarkeiten wieder ans Licht holen und nicht immer nur neue Autoren herausgeben.
Über den Autor:
Luigi Capuana (1839–1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen. «Giacinta» wurde bei Veröffentlichung zu einem Riesenerfolg. 1886 erschien nach empörtem Echo der Kritik eine zweite, «entschärfte» Version. (Verlagstext)
Dieser Artikel ist der sechste aus meiner Reihe zu aktuellen Übersetzungen aus dem Italienischen: Gastland Italien

Samstag, 5. August 2017

Verfahren eingestellt / Claudio Magris

Unter den Übersetzungen aus dem Italienischen, die in der letzten Zeit erschienen sind und die meine Aufmerksamkeit errungen haben, bildet dieser Titel sicherlich eine Ausnahme. Um es kurz und allzu salopp auszudrücken: „Schwere Kost“.
Dr. Claudio Magris studierte an den Universitäten Turin und Freiburg im Breisgau Germanistik. Er ist Essayist und Kolumnist für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera und andere europäische Zeitungen. Durch seine zahlreichen Studien zur mitteleuropäischen Kultur gilt er als deren größter Förderer in Italien. Claudio Magris lebt in Triest und spricht seinen fast als eigene Sprache bezeichneten Triestiner Dialekt. (Quelle: Wikipedia abgerufen am 5.8.2017)
Er ist also kein Romancier im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Wissenschaftler, was man seinem Buch sehr anmerkt. „Zunehmend warnt er vor der Gegenwart des Krieges und betätigt sich als paneuropäischer Friedensstifter im Sinne Kants.“ (Ebenfalls Wikipedia s.o.)
Als Warnung vor der Gegenwart des Krieges ist auch dieses Buch zu verstehen.
„Ich kämpfe nicht gegen das Vergessen, sondern gegen das Vergessen des Vergessens, gegen die schuldhafte Unbewusstheit, vergessen zu haben, vergessen haben zu wollen, nicht wissen zu wollen und nicht wissen zu können, dass es etwas Entsetzliches gibt, das man vergessen wollte – sollte?“
Das Buch erzählt die Geschichte eines grotesken Museums der Gewalt für eine Zukunft in Frieden und des Mannes, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, alle Erinnerungsstücke dafür mühselig zusammen zu tragen: vom alten Panzer, einem gebrauchten U-Boot, verrosteten Teilen kleiner Handwaffen aus allen Teilen der Welt, Videosequenzen aus alten Wochenschauen bis hin zu Abschriften aus den Todeszellen des ehemaligen Konzentrationslagers „La Risiera di San Sabba“ in Triest. Er selbst erlebt die Fertigstellung seines Museums nicht, da er in einer Nacht, als er inmitten seiner gesammelten Stücke in einem leeren Sarg eingeschlafen ist, bei einem Großfeuer verbrannt ist. Luisa, seine Assistentin,  macht es sich zur Aufgabe, aus den immer noch zahlreichen Resten der Sammlung das Museum gegen das Vergessen einzurichten. Vor allem die Notizbücher mit den Abschriften der Zellenwände sind für die Nachwelt interessant und gefürchtet. Die Erben möchten nicht, dass diese veröffentlicht werden. Wichtige Persönlichkeiten in Triest befürchten immer noch, dass herauskommen könnte, wer sich von ihnen oder ihren Vorfahren schuldig gemacht hat. Wie viele der Notizbücher den, vielleicht sogar vorsätzlich gelegten, Brand überstanden haben, ist nicht bekannt. Man hofft allgemein, dass die Beweise nicht reichen und daher ein wie auch immer geartetes Verfahren eingestellt wird. „Über diese Schande, diese ehemalige Triester Reisfabrik, in der die Nationalsozialisten einige tausend Menschen umgebracht hatten oder hingeschickt, um sie dort umbringen zu lassen – im Schweigen der Allgemeinheit, das auch nach dem Krieg noch anhielt –, begann man nun endlich zu reden, was manch einen in Verlegenheit brachte.“ (S.22)
Luisas eigene Lebensgeschichte ist der zweite Erzählstrang des Buches. Sie ist die Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, Nachfahrin von Diaspora und Sklavenhandel. Hier erfährt der Leser viel über Schuld, Gewalt und Krieg in anderen Teilen der Welt und wie alles mit allem zusammenhängt. Diese Kapitel haben mir sehr gefallen, da Magris hier wirklich eine romanhafte Erzählung gelingt.
Mir scheint, Magris hat mit den einzelnen Kapiteln selbst ein Museum der Gewalt errichtet. Die Geschichten sind so zahlreich und muten unsortiert an, als ob man in einem riesigen, verstaubten, unsortierten Museum von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück wandert. Man begreift die Intention, wird aber nicht wirklich ergriffen. Zumindest habe ich einiges über Triest und das einzige Vernichtungslager Italiens gelernt. Ich habe auch eingesehen, wie sehr nach dem Krieg, nach allen Kriegen, vertuscht und gelogen wird, um „ehrenwerte“ Herrschaften nicht zu belasten. Hier hat der Roman seinen Zweck erfüllt.
„Man hat den Müll ins Meer geschüttet, ins Flusstal, sie haben uns hier ausgeladen, zwischen dem Patòc und dem Meer, das Wasser kann hier nicht sehr tief sein, aber wir gehen unter, hinunter, Müll ins Meer zu kippen ist ein Verbrechen, ebenso Menschen hineinzuwerfen, aber der Richter erklärt: Das Verfahren wird eingestellt. (S. 399)
Große Mühe hatte ich auch mit den ellenlangen Sätzen und mühsamen Formulierungen, die ich zuerst der Übersetzerin anlasten wollte. Ich leiste allerdings Abbitte, nachdem ich ich mir das Original angeschaut habe, in dem Sätze wie dieser stehen:
„Lui però, prima, pare le avesse viste e ricopiate, quelle scritte, almeno alcune; anche quei nomi, si mormorava, nomi abietti e altolocati di collaborazionisti o comunque buoni amici dei boia, incisi sui muri delle luride latrine dalle vittime sulla soglia della morte e poi cancellati dalla calce – calce viva, bianca, innocente e bruciante sulla carne viva – e poi cancellati forse un’altra volta ancora dall’incendio nel suo capannone, da un fuoco distruttore che ripuliva ogni sozzura e restituiva una falsa innocenza alla più sordida e immonda infamia, a miserabili protetti per sempre dalla sparizione dei loro nomi dissolti nella calce e polverizzati nella cenere, illeggibili per i giudici umani, come quel magistrato che aveva dovuto concludere l’indagine sui crimini della Risiera quasi con un nulla di fatto; illeggibili forse pure per giudici più alti, anch’essi derubati di ogni materiale di prova e certo illeggibili per i figli di quegli assassini contumaci, ignari che quei loro nomi erano stati a suo tempo corrosi dalla calce o accartocciati dal fuoco; fieri anzi di portare quei nomi rispettabili e dei loro padri che li avevano portati anche quando le vittime – che essi avevano forse spinto o anche solo visto andare a una morte atroce e la cui sorte comunque non aveva turbato la loro indifferenza – li avevano scritti sui muri.“

„Er scheint also diese Inschriften zuvor gesehen und abgeschrieben zu haben, zumindest einige; und auch diese Namen, wie gemunkelt wurde, ordinäre und hochstehende Namen von Kollaborateuren oder zumindest guten Freunden der Henker, eingeritzt in die dreckigen Abortwände von den Opfern an der Schwelle des Todes, und dann ausgelöscht vom Kalk – vom frischen, weißen, unschuldigen und auf dem lebendigen Fleisch ätzenden weißen Kalk – und später vielleicht zum zweiten Mal ausgelöscht durch den Brand in seinem Schuppen, durch ein zerstörendes Feuer, das jede Schmutzigkeit beseitigte und selbst der erbärmlichsten und niederträchtigsten Gemeinheit eine falsche Unschuld zurückgab, jenen Schurken, die nun für immer geschützt waren durch das Verschwinden ihrer im Kalk aufgelösten und in der Asche pulverisierten Namen, unleserlich gemacht für die menschlichen Richter, so wie für jenen Staatsanwalt, der die Untersuchung über die Verbrechen in der Risiera gleichsam ergebnislos einstellen musste; unleserlich vielleicht auch für höhere Gerichte, denen ebenfalls jedes Beweismaterial fehlte, und ganz bestimmt unleserlich für die Kinder dieser abwesenden Mörder, die nicht wussten, dass ihre Namen seinerzeit vom Kalk zerfressen oder vom Feuer verbrannt worden waren; ja, die vielmehr stolz darauf waren, diese ehrenwerten Namen zu tragen, und genauso stolz auf ihre Väter, die diese Namen auch getragen hatten, als die Opfer – welche sie vielleicht in einen schrecklichen Tod getrieben oder ihm zumindest ausgeliefert hatten, kurz: deren Schicksal ihnen wohl ziemlich gleichgültig gewesen war – diese Namen an die Wände geschrieben hatten.“
Der vorliegenden Besprechung liegt die EBook-Ausgabe (ISBN 978-3-446-25604-0) zu Grunde, die mir der Verlag dankenswerter Weise im Rahmen meiner Reihe zu neueren Übersetzungen aus dem Italienischen zur Verfügung gestellt hat.

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... zum Blog der Website "Brücke von Deutschland nach Italien".