Freitag, 28. Juli 2017

Fontane Numero 1 / Paolo Cognetti

Heute präsentiere ich in der Reihe Gastland Italien meine vierte Entdeckung von Übersetzungen aus dem Italienischen. Zugleich nehme ich mit diesem Artikel bei der wunderschönen Blogparade „Bella Italia“ von Silvia und Astrid bei „Leckere Kekse“ teil. Es ist mir eine große Freude, dabei mitmachen zu dürfen!
Beim Rotpunktverlag Zürich – in der Edition Blau – habe ich „Paolo Cognetti – Fontane Numero 1“ entdeckt. Der Verlag hat es mir dankenswerterweise als Rezensionsexemplar überlassen.
Dieses Sommerbuch kommt mir gerade recht. Hier schreibt ein Autor, der sich nach einer Schaffenskrise für einen Sommer in eine relativ einsame Berghütte auf 2000 Meter irgendwo im Aostatal zurückzieht. Er hofft, wieder zu sich zu finden, mithilfe der Einsamkeit und des einsamen Lebens zum Kern, zur Quelle seiner Kreativität.
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Fontane No 1 / Paolo Cognetti ©e_mager
Das Thema spricht mich sehr an. Auch ich stelle es mir wunderbar vor und sehne mich geradezu
danach, für eine längere Zeit in eine Hütte in den Bergen oder am Meer zu ziehen, wo ich von den täglichen Anforderungen an mich einmal nichts mitbekomme. Ich stelle es mir paradiesisch vor, nur mit Büchern, Papier, Stiften und Malutensilien die Tage zu verbringen. Einfaches Leben, einfaches Essen, kein Internet, kein Trubel.
Cognetti ist 30 Jahre alt und erinnert sich daran, wie er mit einem Bergführer in seiner Kindheit die langen italienischen Sommerferien im Gebirge verbracht hat. Mittlerweile im quirligen und lauten Mailand zu Hause, glaubt er, die Verbindung zu dem Naturburschen, dem „ragazzo selvatico“ (So der Titel im Original), der er einmal war, verloren zu haben. Er schiebt auch seine Schreibschwierigkeiten darauf.
Vor allem aber schrieb ich nicht, und das ist für mich, als würde ich nicht schlafen oder essen: Eine solche Leere hatte ich noch nicht erlebt.“
Fontane No 1 / Paolo Cognetti
Fontane No 1 / Paolo Cognetti ©e_mager
Das Büchlein hat nur 140 S., aber die haben es in sich. Alle Bibliomanen unter uns kann ich nur warnen – der Stapel der ungelesenen Bücher wird immer höher. Cognetti bezieht sich in seinem Vorhaben nicht nur auf Henry David Thoreau „Walden oder das Leben in den Wäldern“, sondern führt auch eine Reihe anderer Autoren an, die aus Weltverdrossenheit in der Natur Einsamkeit gesucht hatten.“ 
Wenn ich ein Buch finde, bei dem ich schon auf den ersten drei Seiten, fünf Sätze herausschreiben und erinnern möchte, dann habe ich ein Gefühl wie Liebe auf den ersten Blick: erhöhter Herzschlag, eine wunderbare Entdeckung, Freude. Dieses Bändchen ist so eine Entdeckung für mich.
Es beginnt im Original so:
„Qualche anno fa ho avuto un inverno difficile. Ora non mi pare importante ricordare l’origine di quel male. Avevo trent’anni e mi sentivo senza forze, sperduto e sfiduciato come quando un’impresa in cui hai creduto finisce miseramente. Un lavoro, una storia d’amore, un progetto condiviso con altre persone, un libro che ha richiesto anni di fatica. In quel momento immaginare il futuro mi sembrava un’ipotesi remota quanto quella di mettersi in viaggio quando hai la febbre, fuori piove e la macchina è in riserva sparata. Avevo dato molto, e dove stava la mia ricompensa?“
Der Übersetzung von Barbara Sauser merkt man an, dass sie viel Erfahrung mit dem Italienischen hat. Sie schafft es, die Sätze behutsam zu verknappen und damit die Aussagen aus dem immer etwas weitschweifigerem Italienischen in die adäquate, kargere deutsche Sprache zu übertragen.
„Vor ein paar Jahren erlebte ich einen schwierigen Winter. Die Gründe dafür sind jetzt nicht wichtig. Ich war dreißig und fühlte mich kraftlos, verloren und niedergeschlagen, wie wenn ein Unternehmen, an das man geglaubt hat, kläglich gescheitert ist: eine Arbeit, eine Beziehung, ein gemeinschaftliches Projekt, ein Buch, das mich Jahre der Mühe gekostet hat. Mir eine Zukunft vorzustellen, kam mir in diesem Moment ungefähr so abwegig vor wie eine Reise anzutreten, wenn man Fieber hat, es draußen regnet und dazu der Tank leer ist. ich hatte alles gegeben, wo blieb nun mein Lohn?“
Neben Zitaten aus den literarischen Vorbildern Cognettis (Thoreau, Levi, De André, Reclus, Krakauer und Stern) lernen wir auch die Gedichte der in Italien wohl recht bekannten Antonia Pozzi (1912 bis 1938) kennen. Auch hier hat Barbara Sauser es geschafft, vier davon stimmungsvoll und ohne Verluste zu übersetzen.
Cognetti bezieht im Frühjahr eine von vier verlassenen Hütten, die zusammen das Dorf Fontane gebildet hatten, als es noch bewohnt war. Anfangs ist es wirklich einsam, von Frühling wenig zu spüren, im Mai schneit es noch einmal kräftig. Er findet, was er gesucht hat. Einsamkeit, Natur, das einfache Leben mit Holzmachen, Einheizen, dem Anlegen eines Gemüsegartens und langen Spaziergängen. Später kommen die Hirten mit ihren Tieren. Mit zwei Menschen, Gabriele, dem Kuhhirten, und Remigio, seinem Vermieter, der ab und zu nach ihm schaut, freundet er sich an. Als dann auch noch die Touristen kommen, „die, fast immer in großen Gruppen unterwegs, taub und blind für die Landschaft schienen…“, die die Tiere verjagten, wird ihm auch die Hütte zu viel. Er beschließt, draußen zu leben, noch karger, noch einsamer. „Schwer beladen machte ich die Tür hinter mir zu und hatte doch das Gefühl, mich von einer Last zu befreien.“ Er kommt zu der Einsicht, dass seine Flucht nicht von der Hütte und auch nicht von den Leuten herrührt. Dass die Last vielmehr von ihm selbst ausging. „Wovor sollten wir sonst fliehen, wenn wir aus dem Haus fliehen?“
Am Ende des Sommers kommt er zurück in die Hütte, bis es auch hier Zeit wird, alles winterfest zu machen und zurück in die Stadt zu fahren. Cognetti hat in diesem Sommer zu sich gefunden, aber ganz anders, als er es sich gedacht hatte.
Meine Erkenntnis nach der Lektüre: jeder muss die Hütte in sich selbst finden! Die Kunst ist, im Alltag zu sich zu finden – das wilde Kind in sich zu befreien. Es geht nicht um die Hütte oder die Einsamkeit, sondern um die Abgrenzung gegen die tägliche Brandung an Anforderungen von außen. Ich versuche es gerade; ich bin auf einem guten Weg.
Über den Autor:
Paolo Cognetti, geboren 1978 in Mailand, ist Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Zur Autorenkreis rund um den quirligen Verlag Minimum Fax in Rom gehörend, hat er mehrere, verschiedentlich ausgezeichnete Bücher veröffentlicht. 2016 ist beim renommierten Turiner Verlag Einaudi sein Debütroman erschienen, der in rund 30 Sprachen verkauft wurde. Mit Fontane Numero 1 liegt sein erstes Buch auf Deutsch vor. Über aktuelle Lektüre und über die Berge schreibt er auf seinem Blog: paolocognetti.blogspot.com. (Verlagstext)

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