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Die kleine Giacinta wird von Geburt an von ihrer Mutter abgelehnt, die nur selbstsüchtig auf Geld und eine gute gesellschaftliche Stellung aus ist. Sie wird bis zum Alter von 5 Jahren bei einer Amme aufs Land gegeben, wo sie ziemlich verwahrlost und wie ein kleines wildes Tier aufwächst. Als es der Mutter endlich in den Kram passt, wird Giacinta wieder nach Hause geholt, wo sie mehr oder weniger sich selbst überlassen ist. Anstatt wie vorher auf dem Land recht frei herumzutollen, ist sie nun auf ein Zimmer mit Aussicht auf den eng ummauerten Garten angewiesen. Sie hat keinerlei Kontakt zu Gleichaltrigen. Einzig der Vater ist ihr liebevoll zugetan, aber auch dieser steht unter dem Pantoffel von Giacintas Mutter. Als diese ziemlich unüberlegt einen jungen Mann als Gärtner engagiert, findet Giacinta endlich einen lustigen Kamerad, der Zeit für sie hat. Beppe freut sich, wenn Giacinta zu ihm in den Garten kommt und er hat immer allerlei Späße für sie in petto. Doch ohne dass Giacinta es bemerkt, wandeln sich diese Späße immer mehr zu sexuellen Handlungen bis hin zur handfesten, von Giacinta heftigst abgelehnten Vergewaltigung. Als eine Magd die beiden erwischt, wird Beppe entlassen. Die entsetzte Mutter weiß sich keinen anderen Rat als Giacinta auf ein Internat zu schicken bis sie erwachsen ist.
Wieder im elterlichen Haus, versucht die Mutter mit groß angelegten Festen und Einladungen ihre Tochter mit einer einigermaßen guten Partie zu verheiraten. Der Makel der Vergewaltigung in jungem Alter ist stadtbekannt und deshalb kann man nicht wählerisch sein. Die wunderschöne Giacinta spielt gekonnt auf dem gesellschaftlichen Parkett und schart eine ganze Gruppe junger Männer um sich herum. Innerlich ist sie jedoch teilnahmslos und überhaupt nicht auf eine Ehe aus. Einzig Andrea, ein lebenslustiger und unterhaltsamer junger Mann aus Neapel, kann ihr Herz gewinnen. Da Giacinta aber zutiefst misstrauisch ist und eine abgrundtiefe Angst vor Enttäuschung hat, lässt sie eine Liebesbeziehung nur außerhalb einer Ehe zu.
„Der Mann meines Herzens kann vielleicht mein Geliebter werden, aber mein Ehemann, nein, niemals.“ (S.23)
Andrea, der Giacinta aufrichtig liebt, ist einverstanden, dass sie zum Schein und wegen des guten Namens, den etwas schwachsinnigen Grafen Grippa di San Celso heiratet. Ein skandalöses Leben in einer ungewöhnlichen Ménage-à-trois beginnt und nimmt einen verheerenden Verlauf.
Luigi Capuana schildert dieses Psychogramm einer jungen, weiblichen Seele so schonungslos und präzise, dass der Roman bei seinem ersten Erscheinen 1879 in Italien einen Skandal auslöst und nach sechs Monaten ausverkauft ist. Erst 1886 gibt es eine entschärfte Version, die genau wie weitere Ausgaben nie den Erfolg der Erstausgabe wiederholen können. Erst 1980 erscheint bei Mondadori die Neuauflage nach dem Urtext des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Originals, auf das sich auch die vorliegende Übersetzung von Stefanie Römer ins Deutsche stützt.
Diese liest sich hervorragend flüssig und modern, obwohl sie im Sprachduktus auf die Zeit, in der das Buch spielt, Rücksicht nimmt. Ich habe das sehr schön editierte Buch in einem Rutsch durchgelesen, allerdings häufig kopfschüttelnd. Nicht wegen der „skandalösen“ Begebenheiten, die uns heute keine Empörung mehr entlocken, sondern wegen der wirklich abstrusen Gedankenwelt Giacintas. Capuanas Buch gilt als erster Vertreter der in den 1870er Jahren in Italien neu entstanden Gattung des Verismo, der von Zola und Tolstoi beeinflusst war. Dieser zeichnet sich durch übersteigerten Realismus in der Beschreibung von vor allem sozialkritischen Begebenheiten aus. Bei Capuana sind es die neuen psychologischen und medizinischen Erkenntnisse Mitte des 19. Jahrhunderts, die er mit der Lebensgeschichte der Giacinta illustrieren möchte.
Für Èmile Zola
Ich bin mir gewiss, ein Buch geschrieben zu haben, das weder scheinheilig noch unmoralisch ist. Wäre ich doch ebenso sicher, geschaffen zu haben, was in meiner Absicht stand – ein wahres Kunstwerk! (Widmung)
Ein interessantes Buch, das es verdient hat, aus der Vergessenheit geholt worden zu sein, auch wenn es nicht so stark ist, wie die Klassiker Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest, mit denen es auf dem Schutzumschlag verglichen wird.
Mir gefällt es sehr, wenn ich „historische“ Stoffe von zeitgenössischen Autoren lesen kann, so wie z.B. auch die Neuausgabe von Gabriele Tergits „Käsebier erobert Berlin“. So erlebe ich eine kleine, sehr authentische Zeitreise. Ich freue mich, dass die Verlage diese Kostbarkeiten wieder ans Licht holen und nicht immer nur neue Autoren herausgeben.
Über den Autor:
Luigi Capuana (1839–1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen. «Giacinta» wurde bei Veröffentlichung zu einem Riesenerfolg. 1886 erschien nach empörtem Echo der Kritik eine zweite, «entschärfte» Version. (Verlagstext)
Dieser Artikel ist der sechste aus meiner Reihe zu aktuellen Übersetzungen aus dem Italienischen: Gastland Italien